25 Jahre Mauerfall Rede von Martin Schulz

Met dank overgenomen van Voorzitter Europees Parlement (EP-voorzitter) i, gepubliceerd op zondag 9 november 2014.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

Sehr geehrter Herr Präsident des Deutschen Bundestages,

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesrates,

Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,

Exzellenzen,

Sehr geehrte Damen und Herren,

am 9. November vor 25 Jahren schaute die ganze Welt auf Berlin.

Und die Welt wurde Zeuge wie mutige Männer und Frauen die Berliner Mauer niederrissen.

Die willkürliche Teilung Deutschlands und Europas,

bewacht durch Soldaten,

befestigt durch Stacheldraht,

betoniert durch diese Mauer,

einer Mauer der Angst,

an der zwei Supermächte sich feindlich gegen überstanden;

an der zwei Weltanschauungen aufeinander prallten;

einer Mauer, die Familien, ein Land, einen Kontinent brutal entzwei gerissen hatte.

Diese schmerzliche Teilung wurde durch eine friedliche Revolution beendet.

Kein Panzer rollte.

Kein Schuss fiel.

Kein Tropfen Blut floss.

Ein magischer Moment in der Geschichte Deutschlands und ein epochaler Wandel in Europa.

Bilder, die wir nie vergessen werden:

Menschen tanzten auf der Mauer, fielen sich in die Arme, weinten und sangen vor Glück.

Ihr Ruf "Wir sind das Volk" hallt in Freiheitsbewegungen auf der ganzen Welt nach.

Ihr Mut ist Freiheitskämpfern auf der ganzen Welt bis heute ein Vorbild.

Denn in der Nacht vom 9. November 1989 waren es nicht Supermächte, nicht Staatenlenker, die Geschichte machten.

In dieser Nacht war es das Volk, das seine eigene Geschichte schrieb und den Lauf der Welt veränderte.

Unser Dank und unsere Hochachtung gilt deshalb vor allem den mutigen Bürgerrechtlern in der DDR.

Sie haben dieses Wunder möglich gemacht.

Berlin - über Jahrzehnte Symbol der Teilung Deutschlands und Europas - wurde zum Symbol der Einheit und Freiheit.

Diese Nacht war eine Berliner Nacht.

Es war auch eine deutsche Nacht. Aber nicht nur.

In dieser Nacht, sehr geehrte Damen und Herren, fand eine europäische Freiheitsbewegung ihren Höhepunkt in Berlin.

Wohin man in Europa in den Monaten zuvor auch blickte, an allen Ecken und Enden hatte sich der Funke der Freiheit entzündet.

Zum Beispiel: In Leipzig versammelten sich mutige Frauen und Männer zu friedlichen Mahnwachen.

Intellektuelle und Umweltschützer, Reformsozialisten und Kirchenaktivisten, Gewerkschaftler und Schriftsteller, Musiker und Pfarrer.

Gerade ihre Vielseitigkeit war die Stärke dieser Opposition.

Da diese Vielfalt doch die manifestierte Antithese zum zerrütteten Einparteienstaat war.

Jeden Montag trafen sie sich zum Gebet.

Trugen dann den Widerstand aus der Kirche auf die Straße.

Ihre Rufe halten durch die Straßen Leipzigs:

"Demokratie - jetzt oder nie"

"Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit"

Und: "Wir sind das Volk". Immer wieder: "Wir sind das Volk." Aus Hunderten wurden Hunderttausende.

Hundertausende Menschen, die in zivilem Widerstand auf die Straßen strömten.

Und selbst wahrscheinlich so wenig wie wir ahnten, dass bald das System implodieren und die Berliner Mauer fallen sollte.

Doch dann sprang der Funke der friedlichen Revolution auf die ganze Republik über.

Und die Volksbewegung übernahm die Macht an jenem 9. November 1989.

Und ob wir es wollen oder nicht, ob wir es Zufall nennen oder nicht, damit wurde der 9. November ein weiteres Mal zum Schicksalstag der Deutschen.

Denn der 9. November ist der Tag, an dem 1918 Philipp Scheidemann die Republik ausrief.

Es ist der Tag, an dem 1923 Hitler zur Münchner Feldherrenhalle marschierte.

Es ist der Tag, an dem 1938 in der Reichsprogromnacht Synagogen in ganz Deutschland in Brand gesteckt wurden, und der ein Tag der Schande für unsere Nation wurde.

Der Prolog zum grausamsten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte.

Aber dieser Tag wurde 1989 auch zum Glückstag der Deutschen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ja, wohin man im Jahr 1989 in Europa auch hinblickte: der Funke der Freiheit war entzündet.

Zum Beispiel:

Auf den Danziger Werften, wo sich die Arbeiter um Lech Walesa sammelten.

Schon seit 1988 organisierte Solidarnocs Generalstreiks, legte Gruben und Werften lahm, um die Diktatur zu Zugeständnissen zu zwingen.

Das war eine echte Arbeiterbewegung, die den vermeintlichen Arbeiterstaat demaskierte und das Regime schließlich stürzte.

Und sie ließen sich nicht leiten von Gewalt, sondern von Johannes Paul II, der ihnen zurief: "Bekämpft Böses mit Gutem!"

Zum Beispiel: Von Vilnius über Riga bis Tallinn zog sich eine Menschenkette.

1,8 Millionen Menschen Hand in Hand durchs Baltikum, gedachten des 50. Jahres-Tag des Hitler- Stalin -Paktes.

Auf spontanen nächtlichen Treffen sangen die Menschen gemeinsam.

Und mit ihrer singenden Revolution erstritten die baltischen Völker ihre Unabhängigkeit.

In Prag - sicherlich geht es vielen von Ihnen so wie mir: das Jahr 1989 ist unauflöslich mit dem Bild verknüpft, wie Außenminister Genscher auf den Balkon der deutschen Botschaft trat und den 4000 versammelten "Lieben Landsleuten" sagte, die Ausreise sei jetzt möglich geworden - in Prag nahm die Samtene Revolution mit den Demonstrationen auf dem Wenzelsplatz ihren Lauf.

Die Stimmen von Hunderttausenden von Menschen vereinten sich zu dem Ruf "Havel auf die Burg". Und sie stürzten die Regierung.

An der ungarisch-österreichischen Grenze wurde ein paneuropäisches Frühstück veranstaltet. Premierminister Miklós Németh lies die Grenzanlagen mit Österreich abbauen. Ein Riss im Eisernen Vorhang, durch den zehntausende Ostdeutsche in die Freiheit flohen.

Ob in Berlin, in Leipzig, in Warschau, in Prag oder Bratislava, in Vilnius, Tallinn oder Riga, die Wege zu Freiheit und Demokratie waren unterschiedlich, aber immer waren sie friedlich.

Gemeinsam war den Demonstranten ihre Friedfertigkeit und ihr Mut, mit dem sie Unrecht und Willkür überwanden.

Sehr geehrte Damen und Herren,

im Nachhinein erscheint uns der Ausgang dieser europäischen Freiheitsbewegung zwingend.

Es musste gut gehen. Der Eiserner Vorhang musste fallen.

So erscheint es uns heute im Rückblick. Aber dafür gab es beileibe keine Garantie.

Dass Spruchbanner, Kerzen und Blumen, Gesang und Gebet über Panzer und Gewehre, über Mauern und Grenzen triumphierten, das war wirklich nicht garantiert.

Wie leicht hätten die Demonstrationen in einem tragischen Blutvergießen enden können.

Wie Berlin 1953. Budapest 1956. Prag 1968. Oder Peking 1989.

Das müssen wir uns heute vor Augen halten, um zu verstehen welch ungeheuren Mut diese Menschen aufbrachten, welche Ängste sie ausstanden und überwanden, weil sie in einer freien und gerechten Gesellschaft leben wollten.

Dank dieser mutigen Männer und Frauen konnte in Deutschland zusammen wachsen, was zusammen gehörte, wie Willy Brandt es formulierte. Und konnte auch Europa wieder zusammen rücken.

Einmal mehr wird durch diese europäische Freiheitsbewegung sichtbar, dass die deutsche und europäische Geschichte untrennbar miteinander verbunden sind.

So untrennbar, wie es die deutsche und die europäische Zukunft ist.

Und niemand hat dies - und auch die besondere deutsche Verantwortung, die sich daraus ergibt - sicherer gespürt und erkannt in diesen Wochen und Monaten als der Bundeskanzler Helmut Kohl.

Meine Damen und Herren,

für die ost- und mitteleuropäischen Völker ging es in diesen Revolutionen nicht nur darum, sich des sowjetischen Jochs zu entledigen.

Es ging ihnen auch um - so ein zentraler Leitsatz des Jahres 1989 - die "Rückkehr nach Europa".

Wie der große Historiker Tony Judt schreibt "'Das Gegenteil von Kommunismus war nicht "Kapitalismus", sondern "Europa".

Europa das war für sie Freiheit und Gerechtigkeit.

Demokratie und Solidarität.

Wohlstand und Schutz.

Folgerichtig fanden die Revolutionen von 1989 ihre wirkliche Vollendung auch erst durch die Wiedervereinigungen.

Zunächst durch die deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 - die ja die erste Osterweiterung der Europäischen Gemeinschaft war.

Diese war möglich geworden - nicht alleine aber unter anderem auch - durch die Klugheit eines Mannes, der zu den großen Figuren des 20. Jahrhunderts zählt: Michael Gorbatschow.

Vor allem aber fanden die Revolutionen ihre Vollendung auch durch die europäische Wiedervereinigung mit der Osterweiterung der EU vor zehn Jahren.

Endlich kehrten die mittel-und osteuropäischen Völker in die europäische Familie zurück.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wir haben so viel erreicht in Europa.

Wir rissen Mauern nieder und öffneten Grenzen.

Wir reichten uns die Hand der Versöhnung und wurden Freunde.

Wir schufen den reichsten und größten Binnenmarkt der Welt und durch ihn nie gekannte Möglichkeiten für ganze Generationen.

Und Gesellschaften, die auf Freiheit, Gleichheit und Demokratie gegründet sind.

Wir haben uns ein Immunsystem gegen Krieg geschenkt.

Diese unsere Union ist auf Solidarität gegründet.

Der "Solidarität der Tat" wie Robert Schumann es nannte.

Sich gegenseitig unter zuhaken und den Schwachen dabei helfen, stärker zu werden.

Innerhalb von Gesellschaften und zwischen Gesellschaften.

Solidarität ist die Seele der europäischen Gemeinschaft.

Deshalb haben wir gerade an einem Tag wie heute die Pflicht, genau hinzuschauen und uns zu fragen, ob sich denn die Hoffnungen, die Träume, die Versprechen von 1989 verwirklicht haben?

Ob unsere Gesellschaft heute den Ansprüchen der Freiheitskämpfer von damals standhalten würde?

Manches hat sich erfüllt, darüber habe ich gesprochen.

Anderes jedoch liegt im Argen.

Viele verloren ihre Arbeit. Manche Region blieb zurück.

Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte sind zu groß.

Und durch die Finanzkrise der letzten Jahre haben sie sich noch weiter vertieft.

Eine ganze Generation von jungen Männern und Frauen - es sind die in den Wendejahren geborenen Kinder - sind teilweise ohne Hoffnung für die Zukunft.

Hoffnungslosigkeit aber führt zu Verzweiflung. Verzweiflung zu Radikalisierung und Extremismus. Extremismus, der zunehmend die Demokratie in Frage stellt.

Ich fürchte, wir haben im Freiheitsrausch der Wendejahre aus den Augen verloren, dass Freiheit Bedingungen braucht.

Nur in einer gerechten und in einer solidarischen Gesellschaft kann Freiheit sich entfalten.

Die Gründungsväter der Europäischen Union wussten das;

sie wussten, dass man für eine stabile Demokratie, die Freiheit ermöglicht, auch soziale Stabilität braucht.

Heute, da die Ungleichheit wächst, kehren auch die Extremisten zurück.

Überall in Europa flammen wieder nationalistische Vorurteile auf, machen Populisten mit platten Parolen Stimmung gegen andere,

hetzen Europäer gegen Europäer.

Die Propagandisten des Nationalismus haben wieder Konjunktur.

Sie fordern, 25 Jahre nachdem wir Grenzen niederrissen, an denen Menschen für die Freiheit starben, wegen sicher lösbarer Probleme die Wiedereinführung von Grenzen.

Werden wir es dulden, dass neue Mauern und Grenzen in Europa errichtet werden?

Sagen wir es klar: Das Recht überall in Europa reisen und leben zu dürfen ist die größte Errungenschaft der europäischen Einigung!

Denn genau daran wurden die Menschen zu lange gewaltsam gehindert.

Heute, ein Viertel Jahrhundert nachdem wir glaubten nun breche eine Epoche des dauerhaften Friedens an, ist die Angst vor Krieg nach Europa zurückgekehrt.

In unserer unmittelbaren Nachbarschaft finden Kriege statt, Staaten zerfallen, Grenzen werden wieder gewaltsam verschoben und Menschen fliehen - vor den schlimmsten Grausamkeiten.

Werden wir es zulassen, dass anstelle der Stärke des Rechts nun die Rückkehr des Rechts des Stärkeren droht?

Die friedliche europäische Revolution von 1989 hatte ein Ziel: den Unrechtsstaat durch den Rechtsstaat zu ersetzen.

Aufbauend auf dem Willen zum gegenseitigen Respekt.

Auf dem Respekt vor dem jeweils anderen.

Die Menschen waren sehr unterschiedlich, die auf die Straße gingen.

Aber sie waren einig, vereint in einem Ziel: Demokratie und Gerechtigkeit statt Diktatur und Willkür.

Nichts beschreibt die Epoche nach dem Fall der Mauer besser als der erste Satz der Berliner Erklärung von 2008: "wir sind zu unserem Glück vereint."

Was uns der 9. November 1989 lehrt?

Alles ist möglich.

Aber nichts für immer garantiert.

Was wir von den mutigen Menschen des Jahres 1989 lernen?

Alles ist möglich, wenn wir fest in unseren Grundwerten sind und unsere Verantwortung für die Gesellschaft, in der wir leben, wahrnehmen.

Damit wir in einer Gesellschaft leben, die frei, gerecht und solidarisch ist.

Und wenn wir für unsere Grundwerte bereit sind zu kämpfen, Risiken einzugehen, wenn wir sie verteidigen müssen, weil sie angegriffen werden, das ist das Beispiel das sie uns geben, wenn wir diesem Beispiel folgen, können wir garantieren, dass wir auf Dauer in einer Gesellschaft leben, die frei und gerecht ist.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.