Die Europa - Rede in der Konrad Adenauer Stiftung von Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments

Met dank overgenomen van Voorzitter Europees Parlement (EP-voorzitter) i, gepubliceerd op zondag 9 november 2014.

Sehr geehrte Damen und Herren,

zunächst möchte ich Herrn Dr. Pöttering und der Konrad Adenauer Stiftung dafür danken, dass Sie die "Europa - Rede" als feste Marke im politischen Kalender der Hauptstadt etabliert haben.

Gerade an einem 9. November, diesem für uns Deutsche so ambivalenten Tag,

dem Tag der Ausrufung der Republik nach dem Ersten Weltkrieg 1918,

dem Tag des versuchten Hitler-Ludendorff-Putsches 1923,

dem Tag der „Reichspogromnacht“ 1938, der ein Tag der Schande für unsere Nation wurde, dieser Tag, der 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer auch ein Glückstag wurde; an diesem Tag, der die Tief-und Höhepunkte deutscher Geschichte wie wohl kaum ein anderer Tag versinnbildlicht, über aktuelle europapolitische Fragen nachzudenken, ist eine ausgezeichnete Initiative.

Der 9. November symbolisiert wie kein anderer Tag, wie eng die deutsche und die europäische Geschichte verflochten sind und verdeutlicht wie kein anderer Tag die besondere deutsche Verantwortung für Europa.

Sehr geehrte Damen und Herren,

in diesem Jahr steht der 9. November ganz im Zeichen der Feierlichkeiten zum 25. Jubiläum des Falls der Berliner Mauer. Und zu Recht: am 9. November 1989 fand im Fall der Mauer eine europäische Freiheitsbewegung ihren Höhepunkt, fand ein Jahr seinen Abschluss, das Timothy Garton Ash „das Jahr der Wunder“ nannte.

Und es war ein Jahr der Wunder, dieses Jahr, in dem der Funke der Freiheit Europa entflammte. Auf den Danziger Werften hatten sich die Arbeiter zu Beginn des Jahrzehnts um Lech Walesa gesammelt. Schon bald hatte die Solidarnosc zehn Millionen Mitglieder. Zehn Millionen! Im Februar '89 machten die Gespräche am „Runden Tisch“ den Weg frei für die ersten freien Wahlen in Polen und den überwältigenden Sieg der Solidarnosc. Auch den Beitrag von Johannes Paul II zur Überwindung der kommunistischen Regime kann man gar nicht hoch genug schätzen. In Ungarn finden am Nationaltag, den 15. März, Massendemonstrationen statt, die das Regime zu Gesprächen mit Oppositionsgruppen zwingen.

Im Juni schneiden der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock gemeinsam den Stacheldrahtzaun an der Grenze durch. Im August '89 zieht sich von Vilnius über Riga bis Tallinn eine Menschenkette. Fast zwei Millionen Menschen Hand in Hand durch das Baltikum. Mit ihrer singenden Revolution sollten die baltischen Völker ihre Unabhängigkeit erstreiten. In Prag wird Vaclav Havel aus dem Gefängnis entlassen. Und die Demonstranten fordern: „Havel auf die Burg“.

In Ostdeutschland kommen Bürgerrechtler im Mai massiver Wahlfälschung auf die Spur und enttarnen so die Scheindemokratie. Im Herbst schließen sich von Woche zu Woche immer mehr Menschen den Montagsdemonstrationen in Leipzig an. Für Erich Honecker ist Leipzig damit „das Zentrum der Konterrevolution“. Immer mehr Menschen schließen sich den Rufen an: „Wir sind das Volk!“ Im November dann, am 9. November, bringen mutige Männer und Frauen die Berliner Mauer zu Fall. Eine Mauer, die willkürlich Familien auseinander gerissen hatte. Es gab wohl kaum eine deutsche Familie, die nicht einen Bruder oder eine Schwester, einen Onkel oder eine Tante auf der anderen Seite der Mauer hatte. Eine Mauer, die ein Land, ein Volk künstlich in Ost und West geteilt hatte. Eine Mauer, die auch unser Europa willkürlich getrennt hatte. Doch an diesem 9. November vor 25 Jahren siegte endlich die Freiheit.

In der Rückschau, sehr geehrter Damen und Herren, erscheint es uns, als hätte es gar nicht anders kommen können. Als hätten die Bürgerrechtlicher siegen müssen.

Als hätte die Berliner Mauer fallen müssen. Dabei vergessen wir, dass es auch anders hätte ausgehen können. Es hätte auch so ausgehen können wie auf dem Platz des Himmlischen Friedens, wo die demokratische Bewegung massakriert wurde. Es hat ungeheuren Mut von den Bürgerrechtlern erfordert für ihre Überzeugungen einzutreten. Sie trotzten Beschattungen und Hausdurchsuchungen, Ordnungstrafen, Verhören und Gefängnis. Wir verdanken es diesen mutigen Menschen, den Bürgerrechtlern, die in Leipzig auf den Montagsdemos "Wir sind das Volk" riefen, den Gewerkschaftern um Lech Walesa, den Menschen, die sich von Vilnius über Riga bis Tallinn die Hand reichten und gegen Unterdrückung ansangen, den Ungarn, die die Grenze öffneten; Ihnen und vielen mehr haben wir zu verdanken, dass an diesem 9. November in einer singenden, einer samtenen, einer friedlichen Revolution 1989 die Berliner Mauer fiel. Denn im Jahr 1989 waren es weder Supermächte noch Staatsmänner, die Geschichte machten.

Es war das Volk, das seine eigene Geschichte schrieb.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Der Fall der Berliner Mauer ist eine Zäsur in der Geschichte Deutschlands und Europas. Abschottung und Entmündigung waren beendet. Der Kalte Krieg und die Konfrontation der Supermächte überwunden. Für Eric Hobsbawm markiert das Jahr 1989 das Ende des "kurzen 20 Jahrhunderts". Francis Fukuyama sprach nach dem Fall der Berliner Mauer sogar vom "Ende der Geschichte". Liberale Demokratie und freie Marktwirtschaft würden jetzt einen globalen Siegeszug antreten, so glaubten er und viele andere. Heute erscheint uns das ungeheuer naiv. Aber damals, in den Wendejahren war die Euphorie groß. Jetzt da die militärische und ideologische Konfrontation der Supermächte beendet war, schien die Hoffnung auf dauerhaften Frieden und eine neue, eine gerechtere Weltordnung realistisch.

1989 war das Jahr der Freiheit. Zu den wirkmächtigsten Bildern dieses Jahres - Bilder die keiner von uns je vergessen wird - gehören die Bilder, wie Menschen Grenzen überwanden: Schlagbäume wurden geöffnet, Grenzposten überrannt, Zäune erklommen, Mauern niedergerissen - in einer friedlichen Revolution.

Kein Panzer rollte. Kein Schuss fiel. Kein Blut floss. 1989 war das Jahr, in dem wir in Europa Grenzen überwanden. Heute frage ich mich deshalb, haben sich die Hoffnungen und Träume des Wunderjahres 1989 wirklich erfüllt? Die Hoffnung auf Wiedervereinigung hat sich erfüllt. Die deutsche Wiedervereinigung war wirklich ein unverhofftes Geschenk, niemand hätte sie noch 1987 oder 1988 für so schnell möglich gehalten. Selbst Gorbatschow ging davon aus, dass sie noch 50 oder 100 Jahre würde auf sich warten lassen müssen. Dass sie so schnell möglich wurde und so klug herbeigeführt wurde, ist nicht allein aber in besonderer Weise Helmut Kohl und seiner auf großem Geschichtsbewusstsein gegründeten staatsmännischen Haltung zu verdanken.

Und auch die europäische Freiheitsbewegung fand ihre Vollendung erst in der Wiedervereinigung Europas. Nicht nur vom sowjetischen Joch wollten sich die Menschen befreien, eine der meist wiederholten Losungen des Jahres 1989 war auch die "Rückkehr nach Europa".

Denn über Jahrzehnte waren die Menschen in Mittel- und Osteuropa durch den Eisernen Vorhang von ihren europäischen Wurzeln abgeschnitten. Aber auch von der weiteren Entwicklung Europas. Sie sahen wie sich Europa ohne sie weiter entwickelte, gerade auch als die europäische Einigung mit der europäischen Gemeinschaft immer konkretere Gestalt annahm.

Der „Big Bang“ der Osterweiterung krönte den Übergang zahlreicher mittel- und osteuropäischer Staaten von kommunistischer Herrschaft und Planwirtschaft hin zu Demokratie und freier Marktwirtschaft. Sie vergrößerte die Region der Stabilität, des Friedens und des Wohlstands auf unserem Kontinent. Mit der Osterweiterung hat sich ein Traum des Jahres 1989 ohne Zweifel erfüllt: die mittel- und osteuropäischen Völker sind wieder an ihren rechtmäßigen Platz in der europäischen Familie zurückgekehrt. Europa ist wieder zusammen gewachsen. Das ist gut so.

Doch, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn ich mir heute anschaue, wie wir ein Viertel Jahrhundert nachdem wir mit Begeisterung Mauern nieder rissen und Grenzen öffneten, wie wir 25 Jahre nachdem die Konfrontation der Supermächte beendet war, und viele glaubten, nun breche eine Epoche des immerwährenden Friedens und der weltweiten Freiheit an, wie wir heute eine unheimliche Wiederkehr der Grenzen in Europa erleben, dann bestürzt mich das.

Leichtfertig wird mit der Wiedereinführung von Grenzen innerhalb Europas geliebäugelt. Menschen sterben fast täglich an unseren Außengrenzen bei dem Versuch zu uns zu gelangen. Und es ist wieder möglich geworden Grenzen in Europa mit Gewalt zu verschieben. Damit ist auch die Angst vor Krieg nach Europa zurückgekehrt.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bin im Dreiländereck Deutschland-Belgien-Holland aufgewachsen. Es war für mich eine alltägliche Erfahrung an Grenzen zu leben:

In engen Grenzen, die durch hölzerne Schlagbäume gebildet wurden. Grenzen, an denen sich lange Schlangen bildeten, wenn man am Wochenende zum Einkaufen oder zum Verwandtenbesuch rüber fuhr.

Grenzen, die auch mal, etwa wegen einem Fußballspiel geschlossen wurden. Für mich gibt es deshalb kaum eine größere europäische Errungenschaft als die Freizügigkeit. Kaum etwas steht für mich mehr für Freiheit als die offenen Grenzen.

Was diese offenen Grenzen für Menschen bedeuten, die über Jahrzehnte durch Mauern und Selbstschussanlagen daran gehindert wurden, sich frei zu bewegen, das kann ich mir, um ehrlich zu sein, kaum ausmalen.

Doch es schmerzt mich, wenn heute wieder versucht wird, neue Grenzen zwischen EU-Ländern hoch zu ziehen! Und mit welcher Geschichtsvergessenheit! 25 Jahre nachdem wir Grenzen niederrissen, an denen Menschen für die Freiheit starben, wird wegen sicherlich lösbarer Probleme mit der Wiedereinführung von Grenzen geliebäugelt. Als sei das Recht überall in Europa reisen und leben zu dürfen nicht die größte Errungenschaft der europäischen Einigung!

Und doch erleben wir wie Populisten Panikmache betreiben etwa wegen sogenannter Armutsmigranten aus Bulgarien und Rumänien, die angeblich unsere Sozialsysteme unterwandern. Eine ganz unsägliche Debatte.

Da werden Fakten verdreht. Die Wahrheit verfälscht.

Denn Fakt ist: Zum beschworenen Massenansturm kam es nicht. Am 1. Januar diesen Jahres hatten sich britische Kamerateams an der Grenze in Stellung gebracht, um den Ansturm aus Osteuropa zu filmen. Enttäuscht zogen sie dann wieder ab, weil keiner kam. Was den britischen Premier dennoch nicht daran hindert jetzt Quoten für manche EU-Bürger zu fordern. Als ob wir es hinnehmen könnten, dass es EU Bürger erster und zweiter Klasse gibt!

Wir haben in Europa die Freizügigkeit von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Personen. Wenn nun die Freizügigkeit von Menschen eingeschränkt werden soll, wird das gleiche auch für Waren gelten? Oder sieht das dann künftig an unseren Grenzen so aus, dass die LKWs passieren dürfen, aber die PKWs angehalten und kontrolliert werden? In was für einem Europa wollen wir eigentlich leben?

Fakt ist auch: Niemand kann nach Deutschland kommen und sofort Sozialhilfe beantragen. Im Gegenteil: Deutschland profitiert von Zuwanderung; und zwar ganz besonders von Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien. Diese EU-Bürger sind zu großen Teilen jung, hochmotiviert und gut ausgebildet, zahlen Steuern und stabilisieren unsere Sozialsysteme, besonders unsere Rentenkasse.

Zur Wahrheit gehört aber auch anzuerkennen, dass es Probleme gibt und das muss man offen ansprechen. Die Betreuung von Migranten geht über die Kräfte mancher Gemeinden, die dafür keine ausreichenden finanziellen und personellen Mittel haben. Diesen Städten und Gemeinden müssen wir unter die Arme greifen.

Allerdings, zu fordern, wegen eines angeblichen Ansturms auf unsere Sozialsysteme müsse man jetzt die Freizügigkeit einschränken und wieder Grenzen hochziehen, das ist antieuropäische Hetze.

Was ist nur geschehen in Europa?

Beginnen wir nachdem die Angst vor der Sowjetunion als äußerem Feind weggefallen ist, uns nun gegeneinander zu wenden in Europa? Glauben wir, nun könne es jeder für sich alleine schaffen?

Haben wir vergessen, dass wir gerade in einer sich rapide immer weiter globalisierenden Welt nur gemeinsam stark, alleine aber schwach sind?

Und, sehr geehrte Damen und Herren,

wenden wir den Blick zu unseren europäischen Außengrenzen, dann sieht es nicht wirklich besser aus. In unserer unmittelbaren Nachbarschaft finden Kriege statt, Staaten zerfallen und Menschen fliehen vor den schlimmsten Grausamkeiten. Besonders vor der Terrormiliz des sogenannten „Islamischen Staates“.

Einige von ihnen kommen zu uns. Im vergangenen Jahr wurden 435.000 Asylanträge in der EU eingereicht. So viele wie noch nie zuvor - aber sind es wirklich zu viele, wie manche behaupten, besonders wenn man die Asylanträge im Verhältnis zu 507 Millionen Europäern sieht? Der Libanon, ein Land mit fünf Millionen Einwohnern, hat eine Million Syrer aufgenommen. Nur vier Prozent der syrischen Flüchtlinge haben Schutz in Europa gefunden. Können, müssen wir nicht mehr tun? Gerade auch weil wir wissen, dass die Flüchtlinge, die von uns Schutz erbitten wollen, eine lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer in schrottreifen Kähnen auf sich nehmen müssen.

Wir alle erinnern uns alle an das schreckliche Drama von Lampedusa im vergangenen Jahr. 360 Männer, Frauen und Kinder starben nur 800 Meter vor der europäischen Küste. Sie kamen nach Europa, um Schutz zu suchen. Aber sie fanden den Tod. Viele mehr haben seit der Tragödie von Lampedusa ihr Leben im Mittemmeer verloren. Mehr als 3000 Menschen bereits in diesem Jahr. Das ist eine Schande für Europa.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ja, bei der europäischen Asyl- und Migrationspolitik liegt einiges im Argen. Wenn wir das beheben wollen, dann müssen wir zunächst einmal ehrlich sein.

Und die Ehrlichkeit gebietet, anzuerkennen, dass es bei so einem komplexen Thema wie Migration keine einfachen Lösungen gibt.

Populisten skandieren: „Das Boot ist voll. Macht die Schotten dicht. Lasst niemanden herein.“ Sie lassen das Gebot der Menschlichkeit ausser acht, Kriegsflüchtlingen Schutz zu gewähren und Ertrinkenden eine rettende Hand zu reichen. Sie ignorieren auch, dass Europa schon immer ein Kontinent der Ein- und Auswanderung war und es auch immer bleiben wird.

Andere fordern: „Lasst alle Flüchtlinge herein“ und ignorieren, dass es die Kraft Europas übersteigt, alle Konflikte in der Welt lösen zu wollen oder alle Menschen aufzunehmen. Wir brauchen Regeln, gerade auch um sicherzustellen, dass diejenigen, die wirklich Schutz brauchen, auch unseren Schutz erhalten.

Eine dieser Antworten lautet, mehr legale Wege zu schaffen, die es Menschen ermöglichen in die EU zu gelangen. Anstatt sie mit einem kategorischen „Nein“ menschenverachtenden kriminellen Schleusern in die Hände zu treiben, die mit der Not von Menschen Geld verdienen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

was kaum jemand weiss: 155 Menschen haben die Tragödie vor Lampedusa im vergangenen Jahr überlebt. Die meisten von ihnen kamen aus Eritrea.

Manche von ihnen haben Asyl erhalten.

Manchen wurde zeitlich begrenzt Schutz gewährt.

Andere wurden ausgewiesen.

Ihr Schicksal entschied sich an der Frage, wo in Europa sie gelandet sind. Das aber war reiner Zufall. Sicherlich stimmen Sie mir darin zu, dass wir das Schicksal von Menschen nicht dem Zufall überlassen können, oder schlimmer noch: Menschenhändlern. Das ist absurd. Das ist unmenschlich.

In Europa müssen Flüchtlinge - egal wo - fair, würdig und gleich behandelt werden. Das setzt voraus, dass wir zu einer größeren Harmonisierung bei Asylverfahren

und zu größerer Solidarität zwischen den EU-Ländern gelangen; sowohl was die Empfangsländer als auch was die Aufnahmeländer betrifft.

Es ist nicht fair, wenn einige wenige europäische Länder die große Mehrheit der Flüchtlinge beherbergen. Im Europaparlament diskutieren wir deshalb zurzeit erneut über eine veränderte innereuropäische Verteilung von Asylbewerbern.

Fair ist es aber auch nicht, die Mittelmeeranrainerstaaten mit den Rettungsaktionen für Bootsflüchtlinge alleine zu lassen. Denn die Außengrenzen der EU sind unser aller Verantwortung.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wer von uns hätte sich vorstellen können, dass in Europa wieder Grenzen mit Gewalt verschoben werden könnten?

dass die Sicherheitsarchitektur, die wir in Europa nach dem Kalten Krieg gemeinsam aufgebaut haben, attackiert werden würde?

wer hätte es für möglich gehalten, dass das Recht des Stärkeren sich wieder über die Stärke des Rechts erheben würde? Dass die Angst vor einem Krieg nach Europa zurückkehrt? Das unverantwortliche Handeln Präsident Putins, die Annexion der Krim, die Aggression in der Ost-Ukraine und der wiederholte Wortbruch Russlands errinnern uns an die Zeiten des Kalten Krieges.

Was in der Ukraine geschieht, geht alle Europäerinnen und Europäer an.

Weil wir nicht untätig zusehen können, wie Grundprinzipien der Internationalen Gemeinschaft, Regeln, denen wir alle zugestimmt haben, gebrochen werden.

Als Wertegemeinschaft können wir es nicht hinnehmen, wenn große Staaten in der Anmaßung handeln, für sie würden diese Regeln nicht gelten. Diese Regeln gelten für alle.

Die Europäische Union hat deshalb zu Recht die Annexion der Krim als Bruch des Völkerrechts verurteilt, hat Sanktionen verhängt und verschärft. Wir müssen ehrlich zu unseren Bürgern sein: Diese Sanktionen ziehen nicht nur wirtschaftliche Kosten für Russland nach sich, sondern auch für uns. Das aber, müssen uns unsere Werte wert sein. Aber was können wir noch tun? Wie ist dieser Konflikt zu lösen?

Zunächst: wir müssen anerkennen, dass es keine militärische Lösung gibt. Daran müssen wir alle Seiten immer wieder erinnern, auch einige auf der ukrainischen Seite. Wie leicht können verbale Aufrüstung und Kriegstreiberei eine Eskalationsspirale in Gang setzen, die niemand mehr stoppen kann!

Es kann nur eine Lösung geben und das ist eine politische Lösung.

Wir müssen mit Russland eine politische Lösung erarbeiten.

Ob es uns gefällt oder nicht: Russland ist eine Schlüsselmacht, ein Mitglied des UN-Sicherheitsrates. Deshalb: wir sind gut beraten, uns klar zur territorialen Integrität der Ukraine zu bekennen, aber auch alle Kommunikationskanäle mit Russland offen zu halten.

Im Kampf gegen die Terrormiliz des sogenannten „Islamischen Staates“ ist Russland sicherlich ein Partner. Denn der Vormarsch des Islamischen Staates ist brandgefährlich und wir alle sind erschüttert, mit welchem fanatischen Hass diese Terrororganisation alle tötet, die nicht ihre fundamentalistische Doktrin teilen. Nein, der sogenannte "Islamische Staat" ist das Gegenteil des weltweiten Siegeszugs der Freiheit und der Demokratie, den sich viele nach dem Fall der Mauer erträumt hatten. Vielmehr ist eine neue Unübersichtlichkeit, eine neue Unordnung entstanden, und in den asymmetrischen Konflikten in diesen neuen Kriegen wird eine unvorstellbare Barbarei an den Tag gelegt.

Ich habe mich oft gefragt, ob wir Europäer genug getan haben, um die Freiheitsbewegungen des arabischen Frühlings zu unterstützen. Noch vor kurzem haben uns die Bilder des Arabischen Frühlings begeistert: junge Menschen, die für Demokratie und Freiheit auf die Straße gehen. Aber inzwischen ist Ernüchterung eingetreten. In Libyen droht der Staatszerfall, in Ägypten hat das Militär wieder das Sagen und an der nordafrikanischen Küste versuchen Tausende der elenden Perspektivlosigkeit zu entkommen, in dem sie auf winzigen Booten über das Meer fahren. Was ich mit Sicherheit weiß ist, dass wir gerade Tunesien, diesen demokratischen Hoffnungsschimmer, unterstützen müssen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

in diesem 25. Jahr nach der der friedlichen Revolution von 1989, als es gelang ohne Gewalt Grenzen zu öffnen und Mauern nieder zu reißen, erleben wir, wie manche wieder innereuropäische Grenzen einführen wollen; wir werden Zeuge, wie Menschen an den außereuropäischen Grenzen auf der Suche nach Freiheit und Schutz elendig sterben; und es beunruhigt uns, dass in Europa wieder Grenzen mit Gewalt verschoben werden.

Ich verstehe, dass die Ereignisse in der Ukraine und die Grausamkeit des Islamischen Staates den Menschen Angst machen. Angst vor einem neuen Krieg. Angst davor, dass man in etwas hineingezogen wird.

Furcht ist aber kein guter Ratgeber und wenn sie wächst kann es zu irrationalem Verhalten kommen. So wächst der Wunsch bei manchen, dass man sich einfach Abschotten müsste, abkoppeln von der Unordnung um uns herum. Die Türen feste zu machen und die Festung Europa bauen. Das mag man psychologisch verstehen - politisch umsetzen, darf man es nicht. Denn sonst gefährden wir am Ende unsere eigene Freiheit. Frieden und Freiheit dürfen niemals als selbstverständlich hingenommen werden. Sie wollen jeden Tag aufs Neue erstritten werden. Das gilt auch für Grenzen, die wir für überwunden hielten.

Es erfordert großen Mut, Grenzen zu öffnen und Mauern nieder zu reißen. Lassen wir es nicht zu, dass jetzt aus Angst neue Grenzen und Mauern errichtet werden.

Wenn uns die Bürgerrechtler von 1989 etwas gelehrt haben, dann, dass wir Hinschauen und Handeln müssen; wenn unsere Freiheit und unsere Demokratie bedroht werden. Lassen Sie uns gemeinsam der Wiederkehr der Grenzen entgegen stellen!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.