Industrial Employment Conference - Rede von Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein. Ich danke Michael Vassiliadis für die Einladung, heute mit Ihnen über die europäische Industriepolitik zu sprechen.
Industriepolitik ist ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt.
Ich war lange Jahre Bürgermeister einer Bergbaustadt und weiß aus eigener Erfahrung, wie schmerzhaft und langwierig Strukturwandel ist. Damals habe ich gelernt, dass die Industrie das Fundament unserer Wirtschaft ist.
Die Industrie ist die Basis des wirtschaftlichen Erfolges unseres Kontinents!
Vier Fünftel unserer Exporte kommen aus der Industrie.
57 Millionen Menschen sind in der Industrie beschäftigt. Jeder Job in der Industrie schafft zudem zwei hochqualitative Jobs im Dienstleistungssektor. Unsere Industrie ist ein Wachstumstreiber!
Auf eine kluge Industriepolitik setzen, das heißt, unsere Wirtschaft wetterfest für die Stürme auf den Finanzmärkten machen. Denn in den letzten Jahren hat sich eines immer wieder bewahrheitet: Länder mit einer soliden industriellen Basis kamen besser aus der Krise heraus - oder wurden erst gar nicht in den Abgrund gerissen.
Jene, die uns seit Jahrzehnten erzählen, Europa wäre zukünftig nur mehr das Ingenieurbüro, eine post-industrielle Gesellschaft, die auf Dienstleistung und Finanzwirtschaft setzt, während die Arbeitsplätze in der Industrie alle nach Asien oder Lateinamerika verlagert würden, lagen falsch.
Länder, die dieser Philosophie folgten, hat die Krise böse erwischt.
Länder, die ihrer Industrie treu blieben, stehen heute deutlich besser da.
Europa ist ein Industriekontinent - und das soll auch so bleiben!
Deshalb ist Industriepolitik für mich Zukunftspolitik. Weil ich weiß, dass unsere Kinder dann eine gute Zukunft haben werden, wenn die innovativen und nachhaltigen Produkte des 21. Jahrhunderts in europäischen Forschungszentren erdacht, in europäischen Fabriken hergestellt und von europäischen Häfen in den Rest der Welt verschifft werden.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Nur mit einer aktiven, nur mit einer klugen Industriepolitik werden wir unsere Wettbewerbsfähigkeit im interkontinentalen Wettbewerb erhalten und sicherstellen, dass die Wertschöpfung innerhalb der EU selbst erfolgt - und damit vor allem auch unser europäisches Sozialmodell im globalen 21. Jahrhundert bewahren.
In Europa leben wir in wertegeleiteten Demokratien.
Wir haben Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung - genauso wie Tarifautonomie, das Recht Gewerkschaften zu bilden, Streikrecht, Arbeitsrecht, Sozialpartnerschaften und Sozialdialog.
Aber keine Folter. Keine Kinderarbeit. Keine Todesstrafe. Keine lebensgefährlichen Bedingungen am Arbeitsplatz. Aber Löhne, die ein würdiges Leben ermöglichen.
Doch unsere Unternehmen konkurrieren mit Unternehmen in anderen Teilen der Welt, in denen es diese Rechte nicht gibt.
In anderen Teilen der Welt malochen Menschen zwölf, vierzehn Stunden am Tage für einen Dollar. Es gibt kein Streikrecht, keine Gewerkschaften, keine Klagemöglichkeit für Arbeitnehmer. Aber Kinderarbeit und moderne Sklaverei.
Sozialdumping und Lohndumping in anderen Teilen der Welt erzeugen einen ungeheuren Druck auf unsere heimische Industrie.
Hinzu kommen steigende Energiepreise, die Kreditklemme, unzureichende Investitionen in Forschung und Entwicklung - all das erhöht den Druck weiter.
Es zeichnet sich bereits eine negative Entwicklung ab:
Wir erleben eine Abwanderung der Industrie aus Europa. Immer mehr Arbeitsplätze werden außerhalb Europas verlagert. Die EU-Kommission spricht von 3.5 Millionen Arbeitsplätze, die allein seit 2008 verloren gingen.
Auch in meinem Heimatland, in Deutschland, ist der Anteil des Industriesektors von 36 Prozent im Jahr 1960 auf heute 23 Prozent gefallen.
2011 stieg China zur führenden Industriemacht auf. Auch Indien und Brasilien holen auf. Länder, die alle billiger produzieren als wir. Die USA, Japan und besonders China betreiben zudem eine sehr aktive Industriepolitik mit großen Ressourcen.
Aber eines ist klar: Den Wettbewerb um die niedrigsten Arbeitnehmerrechte und geringsten Umweltstandards können wir mit Diktaturen und Niedriglohnländern nicht aufnehmen.
Dieser Weg ist für uns nicht gangbar.
Diesen Weg wollen wir vor allem nicht gehen.
Unser Sozialmodell bewahren, unsere Wettbewerbsfähigkeit bewahren, das können wir im globalen 21. Jahrhundert nur, wenn wir gemeinsam auf eine kluge Industriestrategie setzen.
Zersplittern wir uns, versuchen europäische Länder sich durch Niedrigsteuerpolitik oder Sozialdumping in einem Unterbietungswettbewerb gegenseitig Unternehmensstandorte streitig zu machen, dann sehen wir alle einem race-to-the-bottom entgegen. Halten wir zusammen, können wir gemeinsam mit unseren 28 Staaten, 507 Millionen Menschen und dem reichsten und stärksten Binnenmarkt der Welt unsere Interessen durchsetzen sowie unsere Rechte und Standards bewahren. Weil wir gemeinsam stärker sind.
Gemeinsam können wir eine kluge Strategie verfolgen, um unsere Arbeitsplätze zu sichern, um unseren Lebensstandard zu bewahren, um unsere hohen Sozial- und Umweltstandards beizubehalten und um Wachstum zu schaffen.
Und diese kluge Strategie kann für mich nur eine aktive Industriepolitik mit dem Ziel einer Re-industrialisierung Europas sein.
Eine aktive europäische Industriepolitik, das bedeutet Back to the roots, zu unseren Ursprüngen zurückkehren. Denn ihren Ausgang nahm die europäische Einigung mit der Gemeinschaft für Kohle- und Stahl. Am 9. Mai 1950 stellte der französische Außenminister Robert Schuman einen faszinierenden Plan vor:
Die kriegswichtigen Schlüsselindustrien Kohle und Stahl sollten einer gemeinsamen supranationalen Aufsicht unterstellt werden. Und die mutige Initiative gelang: Seit sechs Jahrzehnten leben wir in einem geeinten, friedlichen, wohlhabenden Europa der offenen Grenzen. Bei der Weiterentwicklung des Binnenmarktes hat sich die EU in den vergangenen Jahren dann stark auf Dienstleistungen konzentriert. Es herrschte der Irrglaube vor, dass die Entwicklung von Industrieregionen zu Dienstleistungsregionen ein ganz normaler Prozess im Rahmen eines Strukturwandels sei. Die Industrie wurde leider manchmal etwas stiefmütterlich behandelt. Auch durch andere Politiken, allen voran die Umweltpolitik, wurde der Industriestandort Europa in den vergangenen 20 Jahren nicht gerade gestützt. Das muss sich ändern. Wir müssen verschiedene Politikfelder verbinden und im Sinne einer klugen Industriepolitik bündeln.
Denn auf eine kluge Industriepolitik setzen, das heißt auf unsere Zukunft als wissensbasierte und wettbewerbsfähige Region im interkontinentalen Wettbewerb setzen.
Die europäische Industrie ist in vielen Schlüsselbereichen ein global champion: In der Automobilindustrie, im Maschinenbau, in der Chemie- und Pharmaindustrie. Das sind gute Gründe, weiterhin auf eine starke Industriepolitik zu setzen, unseren Vorsprung weiter aufzubauen und dort, wo wir zurückgefallen sind, aufzuholen.
Was kann die EU heute konkret tun, um die Rahmenbedingungen für die Industrie in Europa zu verbessern?
Erlauben Sie mir an dieser Stelle, einen Sieben-Punkte Plan für eine Re-Industrialisierung Europas vorzustellen.
Erster Punkt: Gezielte Investitionen in Forschung und Entwicklung.
Wir haben gerade in diesem Bereich wirklich Aufholbedarf und müssen aufpassen, dass wir nicht abgehängt werden:
Während Europa zwei Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung ausgibt, sind es in den USA fast drei Prozent. Deshalb halte ich die europäische Forschungspolitik für grundlegend wichtig, um unsere Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, vor allem deshalb, weil durch eine europäische Forschungspolitik Synergieeffekte erzielt werden, ein europäischer Mehrwert entsteht. Das EU-Forschungsprojekt Horizon 2020 etwa begleitet Produkte von der Entwicklung der Idee im Labor über die Werkbank bis hin zum Verkaufsregal.
Deshalb hat das Europäische Parlament in den Haushaltsverhandlungen auch so hart für die Forschungspolitik gekämpft. Ich hoffe, dass es der nächsten Kommission gelingt, die Gelder für die Forschungspolitik wieder zu erhöhen. Denn bei der Forschung sparen, heißt unsere eigene Zukunft zu beschneiden. Wenn wir in diesem Bereich nicht ehrgeiziger sind, drohen wir viele junge hochtalentierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu verlieren. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem Europa Innovation und technologische Durchbrüche mehr denn je braucht, um im globalen Wettstreit mithalten zu können!
Zweiter Punkt: Gezielt in Infrastrukturprojekte investieren. Und zwar sowohl in Verkehrsnetze als auch in den Ausbau von Energie- und Breitbandnetzen.
Die Connecting Europe Facility kann hier ein Schlüsselinstrument sein, um gemeinsame Projekte in Transport, Energie und Telekommunikation voran zu bringen. So sollen in den nächsten Jahren knapp 30 Milliarden Euro für transeuropäische Netzwerke ausgegeben werden.
Dritter Punkt: Eine innovationsfreundliche Umgebung schaffen. Zum einen bedeutet das weniger unnötige Regulierung auf nationaler und europäischer Ebene. Das bedeutet aber auch, dass die nächste Kommission den Binnenmarkt vollenden muss. Denn weniger unterschiedliche nationale Regulierung wird den Menschen und den Unternehmen das Leben leichter machen. Dabei geht es nicht nur darum, weniger und schlauer zu regulieren. Es geht auch darum, den Unternehmen und den Menschen das Gefühl zu geben, dass wir gemeinsam einen starken Markt für neue Produkte schaffen. Es geht darum, ein positives Geschäftsumfeld zu schaffen.
Besonders wichtig ist mir, dass wir gerade auch die traditionellen Industriesektoren stärken. Sicherlich birgt die digitale Wirtschaft große Potenziale. Darüber dürfen wir jedoch nicht die traditionelle Industrie vergessen, die immer wieder ihr großes Innovationspotential unter Beweis stellt. Gerade im Bereich moderner Fertigung, sowohl was Zulieferketten als auch Fertigungstechnologie betrifft, kann die Innovationsfähigkeit gestärkt werden. Die Stahlindustrie etwa ist von strategischer Bedeutung für mehrere grundlegende Wirtschaftszweige in der EU.
Vierter Punkt: Eine starke Industriepolitik mit einer effizienten internationalen Handelsstrategie kombinieren.
Wie Bernd Lange es im Bericht des Europäischen Parlaments zur Industriepolitik formulierte: "Handel ist nicht ein Ziel an sich, sondern Bestandteil einer industriellen Strategie".
Nur mit einer effizienten Handelsstrategie können wir die Interessen unserer Industrie durchsetzen, Sozialdumping verhindern, und den Marktzugang für europäische Produkte garantieren. Heute hat Europa eine negative Handelsbilanz. Das muss sich ändern.
Ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA, über das derzeit viel und kontrovers berichtet wird, würde einen enormen Schub für das Wachstum und Jobs auf beiden Seiten des Atlantiks bedeuten. Aber nicht um den Preis unserer hohen Standards! Wir müssen unsere hohen Standards schützen! Und gleichzeitig den Marktzugang für europäische Produkte gerade von KMUs in den USA verbessern.
Hier liegt der Vorteil der EU klar auf der Hand. Gehen wir gemeinsam mit unseren 28 Staaten und unseren 507 Millionen Menschen als größter und reichster Binnenmarkt der Welt in diese Verhandlungen mit den USA rein, dann können wir unsere Interessen durchsetzen. Jedes Mitgliedland für sich würde hingegen von den USA in bilateralen Freihandelsverhandlungen zum Frühstück verspeist werden.
Das Europäische Parlament, das allen Handelsabkommen zustimmen muss, wird jedenfalls sicherstellen, dass wir auf Augenhöhe mit den USA verhandeln und unsere hohen Arbeitsrechte und Verbraucherstandards schützen.
Generell sollten europäische Unternehmen, wo auch immer sie operieren oder investieren, dies im Einklang mit europäischen Werten und internationalen Normen tun. Denn wenn die EU und europäische Firmen zu höheren Standards in Drittländern beitragen, dann stärkt das die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft!
Fünfter Punkt: In Menschen investieren.
Erstklassige Ausbildung ist die Grundlage für den Erfolg des Wirtschaftsstandorts Europa.
Wir können in Europa nicht mit billigen Löhnen, billiger Energie, billigen Ressourcen konkurrenzfähig werden. Aber mit unseren Menschen sind wir Spitzenreiter.
Wissen ist heute die wichtigste Quelle für Wertschöpfung. Wir sind heute schon stark. Und das müssen wir ausbauen! Denn die Transformation zu einer wissensbasierten Wirtschaft wird neues Wachstum schaffen!
Was heißt das konkret? Zum einen, die Qualifikation der Arbeitnehmer besser an die Anforderungen der Wirtschaft anpassen. Derzeit gibt es in der EU fünf Millionen junge Menschen ohne Arbeit - und zwei Millionen offene Stellen. Die Mobilität im Binnenmarkt erhöhen, das ist eine Seite der Medaille. Die Qualifikationen der Arbeitnehmer etwa durch duale Ausbildung und lebenslanges Lernen verbessern, die andere Seite der Medaille.
Gerade was die Gestaltung des Übergangs von der Schule zum Arbeitsmarkt und weitere Qualifizierungswege betrifft, muss es einen institutionalisierten Dialog zwischen den Sozialpartnern und den Behörden geben. Auch müssen die im Gefolge der Finanzkrise erfolgten Kürzungen im Ausbildungs- und Bildungsbereich zurückgenommen werden. Hier sparen, heißt an der falschen Stelle sparen. Investitionen in Ausbildung sind Investitionen in eine gute Zukunft für unsere Menschen und unsere Gesellschaften.
Sechster Punkt: Eine nachhaltige, Ressourcen schonende Industrie fördern. Der US-Ökonom Jeremy Rifkin hat die Parole von einer dritten industriellen Revolution ausgegeben: Erneuerbare Energien sollen mit dem Internet zur mächtigen neuen Infrastruktur einer dritten industriellen Revolution bis 2050 fusionieren. Das mag utopisch klingen, aber sicher ist: Energie wird immer teurer, Rohstoffe werden immer knapper. Während Material und Energie 40 Prozent der Kosten verursachen, macht Arbeit nur 20 Prozent aus. Energie- und ressourceneffiziente Technologien haben deshalb ein enormes Potenzial, Kosten zu senken - und werden damit zum Wettbewerbsvorteil.
Die Krim-Krise hat uns allen vor Augen geführt, dass wir mit dem Energiebinnenmarkt bisher kläglich gescheitert sind. Die Ohnmacht vieler EU-Staaten angesichts ihrer Abhängigkeit von Energielieferungen von Drittstaaten ist ein Armutszeugnis für die europäische Energiepolitik der letzten 40 Jahre. Anscheinend haben wir aus der Ölkrise nicht sehr viel gelernt.
Die Kommission schätzt, dass im Bereich der erneuerbaren Energien drei Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden können und verbesserte Energieeffizienz weitere zwei Millionen Arbeitsplätze bedeuten kann. Deshalb hat sich das Europäische Parlament auch für ehrgeizige Klima- und Energieziele bis 2030 ausgesprochen.
Europa ist bereits heute ein Vorreiter in nachhaltiger Technologie. Ich bin überzeugt, dass Europa das wirtschaftliche, menschliche und technologische Potenzial hat, den Übergang zu einer nachhaltigen, energieeffizienten Niedrig-Emission-Industrie zu schaffen.
Siebter Punkt: Die Finanzierung der Realwirtschaft sichern. Das Investitionsniveau liegt in Europa noch immer unter dem Vor-Krisen-Niveau des Jahres 2007. Zu diesem Niveau müssen wir aber schnell wieder aufschließen - und möglichst darüber hinausgehen. Und zwar durch eine verbesserte Kreditvergabe an die Realwirtschaft und die gezielte Verwendung von öffentlichen Geldern.
Gerade kleine und mittlere Unternehmen haben große Probleme, Kredite zu erhalten. Dabei sind sie es, die unsere Wirtschaft über Wasser halten. Zwischen 2002 und 2008 wurden 85 Prozent aller neuen Arbeitsplätze in der EU von kleinen und mittleren Firmen, besonders auch von Start-Ups geschaffen.
Neben den Strukturfonds existieren bereits Instrumente wie die Europäische Investitionsbank, COSME und neue EU Programme, die KMUs den Zugang zu Krediten erleichtern. 120.000 KMUS haben in den vergangenen sechs Jahren bereits von solchen Programmen profitiert. Aber wir müssen mehr tun.
Um dauerhaft Investitionen zu sichern, muss eine nachhaltige und reformierte Finanzwirtschaft wieder zu ihrer eigentlichen Aufgabe zurückkehren: die Realwirtschaft mit Geld zu versorgen, anstatt durch Seifenblasen-Spekulationen Raubbau an der Realwirtschaft zu betreiben.
Zwei gute Nachrichten gibt es immerhin: Die Bankenunion steht vor der Vollendung. Damit werden wir endlich Banken sicher machen und das Prinzip durchsetzen „Banken retten Banken“, anstatt Steuerzahler für Spekulanten zur Kasse zu bitten - und hoffentlich auch bald wieder eine Normalisierung der Kreditvergabe erleben.
Allmählich setzt sich auch die Erkenntnis durch, dass eine reine Sparpolitik nicht funktioniert, dass Strukturreformen und Wachstumsimpulse zwei Seiten derselben Medaille sein müssen. Unter Federführung von Alejandro Cercas hat der Ausschuss für soziale Angelegenheiten und Beschäftigung des Europäischen Parlaments eine detaillierte Bewertung der Anpassungsprogramme der Troika vorgelegt. Darin kommt das Europäische Parlament zu dem Schluss, dass durch die Kürzungen nicht nur die Schulden in den Programmländern exponentiell angestiegen sind. Es gibt weniger und schlechte Arbeitsplätze - in den letzten vier Jahren sind zwei Millionen Arbeitsplätze in Griechenland, Irland, Zypern und Portugal verloren gegangen, während prekäre Beschäftigungsverhältnisse zugenommen haben; gerade die am stärksten gefährdeten Gruppen leiden am meisten unter der Situation: Jugendliche, Langzeitarbeitslose, Frauen, Migranten und Menschen mit Behinderungen. Die Armut hat zugenommen, gerade auch Armut trotz Erwerbstätigkeit und Energiearmut.
Natürlich müssen wir Staatschulden abbauen, wir können unseren Kindern ja keine Schuldenberge vererben - das widerspräche der Generationengerechtigkeit!
Aber die Staaten brauchen mehr Zeit. Und wir müssen Zukunftsinvestitionen aus den Defizitberechnungen herausnehmen. Sonst kommen wir aus dem Teufelskreis Haushaltskürzungen und wirtschaftliche Stagnation niemals heraus. Denn Investitionen sind die eine Seite. Aber die Stärkung der Nachfrage ist die andere Seite.
Diese Anpassungsprogramme haben auch unserem Sozialmodell Schaden zugefügt.
Im Bericht Cercas heißt es dazu: „Der soziale Dialog ist möglicherweise das erste Opfer der Programme“. Die Sozialpartner wurden nicht konsultiert, nicht einbezogen; damit wurde der Grundsatz der Kollektivvertretung untergraben. Gleiches gilt für das Europäische Parlament, das einfach an den Rand gedrängt wurde.
Dabei hat Europa gegenüber anderen Weltregionen einen ganz großen Standortvorteil: Und das ist unser Sozialmodell. Doch dieses weltweit einzigartige Modell mit Sozialpartnerschaft und Sozialdialog kommt zusehends unter Druck - von innen und von außen.
Zu lange hatten die wirtschaftlichen Freiheiten des Binnenmarktes Vorrang vor den sozialen Errungenschaften. Und ich verstehe, dass viele Menschen deswegen frustriert und wütend auf die EU sind.
Aber die Wahrheit ist: In einer globalisierten Welt können wir uns nicht in ein vermeintliches nationales Idyll zurückziehen. Unsere einzige Option ist, die auf nationaler Ebene erstrittenen Arbeitnehmerrechte, Schutzstandards und die Mitbestimmung jetzt mit und auf der europäischen Ebene zu verteidigen. Dafür müssen wir die Rolle der Gewerkschaften auf europäischer Ebene stärken. Ich treffe mich bereits vor jedem Europäischen Rat mit dem ETUC. Aber wir brauchen in diesem Bereich eine verstärkte Institutionalisierung. Dazu zählt auch eine Teilnahme des Europäischen Parlaments an den Dreiergipfeln der Kommission mit den Sozialpartnern. Wir können faire Löhne für alle erreichen, indem wir Sozialdumping bekämpfen und ein europäisches System von Mindestlöhnen durchsetzen, die an die wirtschaftliche Leistung des jeweiligen Landes angepasst sind. Denn leider sind nicht alle Länder so progressiv, dass ein guter Mindestlohn und gute Gewerkschaften es allen Menschen ermöglichen, ein Leben in Würde zu führen.
Und wir müssen Lohndumping und kriminelle Ausbeutung bekämpfen. In meinem Heimatland gibt es Arbeitsmigranten, die zu Hungerlöhnen im Akkord schuften; für 2 Euro 80 in einem Schlachthof oder als Scheinselbständige auf dem Bau malochen. Das ist Quasi-Sklaverei! Das höhlt unsere hart erstrittenen Arbeitnehmerrechte und Sozialstandards aus!
Dagegen muss man vorgehen!
Menschen, die arbeiten wollen, sind nicht das Problem. Das Problem sind Regeln, die es möglich machen, Menschen auszubeuten. Das Problem sind Regeln, die es möglich machen, dass unsere Arbeiterrechte und Sozialstandrads untergraben werden! Deshalb müssen wir den Grundsatz des gleichen Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Ort einführen.
Und deshalb müssen wir die Entsenderichtlinie ändern.
Ohne Europa wird es nicht gehen. Aber mit diesem Europa wird es auch nicht gehen. Damit unsere Kinder eine gute Zukunft haben, brauchen wir ein Europa, das sozial gerecht ist, ein Europa, das sein Sozialmodell und seine Werte genauso stark verteidigt wie seine Industrie.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.